DIE ZEIT - LEBEN
45/2004

U N E I N H E I T

Ein Ort, zwei Welten

Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört? In Kleinmachnow am Rande von Berlin hat sich 15 Jahre nach der Wende sogar die CDU in Ost und West gespalten

Von Henning Sussebach

Da war zum Beispiel der Streit um den Schulbeginn. Eigentlich ging es nur um eine halbe Stunde, aber am Ende wurde wieder ein Kampf der Kulturen daraus, wie aus vielem in Kleinmachnow ein Kampf der Kulturen wird. Dieses Mal stand die Eigenherd-Grundschule im Mittelpunkt. Hier hatte der Unterricht stets um halb acht begonnen, schon in der DDR, doch das war den zugezogenen Familien zu früh, sie wollten lieber acht Uhr, wie sie es aus dem Westen kannten. Als sich die Lehrer aus dem Osten und die Eltern aus dem Westen nicht einigen konnten, wurde eine große Versammlung anberaumt. Das Kollegium bot die lokale Tradition und seine Erfahrung auf, die Eltern eine Kinderärztin, eine Kinderpsychologin und einen Verwaltungsjuristen. Die Argumente wogten durch den Saal, bis die Ärztin vom Biorhythmus erzählte und davon, dass ein zu früher Start in den Tag die Kinder auszehren und ihrer Konzentration schaden könne. "Wir sind früher auch früh aufgestanden", riefen da die Ostdeutschen, "und Sie sagen jetzt, das habe uns psychisch geschadet? Unverschämt!" Die Westdeutschen wiederum hatten mit Hilfe ihres Juristen herausgefunden, dass ein Schulbeginn um halb acht laut Gesetz nur in Notsituationen erlaubt sei. Da hätten die Ostdeutschen wohl Recht gebeugt, aber jetzt seien andere Zeiten angebrochen, zum Glück.

Das vorweg. ©

Der Ostdeutsche fühlt sich hintergangen wie einst die Indianer

Am Anfang ist da nur der Name, Kleinmachnow, und der Name klingt so friedlich, dass man nicht glauben mag an das Gerede vom großen Streit zwischen Ost und West in der kleinen Stadt am Südrand Berlins, einem Streit, der sogar die örtliche CDU gespalten hat, obwohl die sich doch so gern als Partei der deutschen Einheit sieht. Vorsätzlich arglos also fährt man auf der Autobahn 115 hinaus aus der Hauptstadt, die bald 15 Jahre Mauerfall feiern wird, fährt bis zur Ausfahrt Dreilinden, biegt rechts ab auf den Stolper Weg und durchquert einen Kiefernwald, in dem es nach Harz und Herbst riecht. Dann tauchen zwischen den Bäumen die ersten Häuser auf, strahlend weiß in der späten Sonne, und man freut sich über die Dreiräder in den Einfahrten, über die Schaukeln in den Gärten und über die Straßennamen Am Fuchsbau, Am Rodelberg, Eichhörnchenweg, Hohe Kiefer. In der Leite 74 klingelt man bei Jentzsch - das ist der Name ganz vorn im noch leeren Notizblock -, ein Fenster in der grau verputzten Fassade öffnet sich, und aus dem Dunkel ruft eine Stimme: "Komm' Se rein!"

Und dann ist man auch schon drin, im Streit, und der Block wird sich füllen, bis am Ende Wirklichkeit und Wahn kaum mehr zu trennen sind.

Zwei Stunden wird Bernd Jentzsch in seinem Sessel sitzen, ein Rentner in brauner Hose und blassgrünem Poloshirt, und Jentzsch wird reden, ach was: schimpfen auf "die Wessis", bis in die Dämmerung hinein wird er erzählen von deren überzogenem Anspruchsdenken und knallharter Interessenpolitik in der Gemeindevertretung, und mit heller, aufgeregter Stimme wird er am Ende sagen: "Seh'n Se. Und deshalb fühl ich mich fast wie so 'n Indianer in Amerika, die erst mal die Weißen freundlich begrüßt hatten - und was dann passiert ist, wissen wir ja, nicht? Und so passiert es in Kleinmachnow auch."

Kleinmachnow. Liegt da wie eine Perle im Wald, im mondänen Dreieck zwischen Berlin-Zehlendorf, dem Wannsee und Potsdam, wie geschaffen für das kleine Glück im Eigenheim am Rande der Hauptstadt. Flöge man mit dem Flugzeug über den Ort hinweg, würde man nur von Eichen beschattete Pflasterstraßen sehen, Gärten und Häuser, eine rot geziegelte Idylle, und man würde nicht ahnen, dass dort unten Bernd Jentzsch, vor 68 Jahren geboren in Kleinmachnow, vor mehr als 30 Jahren eingetreten in die CDU, vor einem Jahr dann wieder ausgetreten, dass dieser Jentzsch das Gefühl hat, in tiefer Fehde zu liegen mit Guido Beermann aus dem Iltisfang, Ludwig Burkardt aus dem Waldwinkel und Professor John Banhart aus dem Uhlenhorst. Beermann, Burkardt, Banhart, das sind die anderen Namen im Notizblock. Die drei sind in den vergangenen Jahren in den Ort gezogen. Jentzsch hält sie für Kolonialisten. Was ist nur geschehen?

"Laboratorium der Einheit" ist Kleinmachnow oft genannt worden, denn von den 17672 Menschen, die hier leben, sind zwei Drittel nach dem Fall der Mauer zugezogen. Kein anderer Ort in Deutschland musste sich so schnell wieder vereinigen, und das mit so vielen Verwerfungen: Nach der Wende hatten Westdeutsche Rückgabeansprüche auf 60 Prozent der Häuser in Kleinmachnow erhoben, mancher Streit glitt ins Bizarre ab, bevor er vor Gericht entschieden wurde. So verbot ein Westbesitzer dem über Nacht zum Mieter gewordenen Ostbewohner, den Garten zu betreten, den dieser 40 Jahre lang gepflegt hatte. Jahr um Jahr zogen immer mehr Alteingesessene aus, die Gemeinde baute ihnen 453 neue Häuser, eine ganze Siedlung nahe der Autobahn, die mancher jetzt "Ghetto" nennt. ©

In die alten Häuser zogen die Neuen. Manchmal fahren die Alten mit dem Auto vorbei, um zu schauen, wie sich alles verändert. Die Fassaden. Die Terrassen. Die Gärten, in denen fremde Kinder toben. Das war der Boden, auf dem die Einheit gedeihen sollte, mit Verletzungen und Vorurteilen kontaminierter Grund, in dem auch Guido Beermann 1999 eine Baugrube ausheben ließ und eine Doppelhaushälfte für sich, seine Frau und die drei Töchter baute. Die Beermanns kamen aus Bonn.

Guido Beermann, 38 Jahre alt, früh ergraut, schmal, fast feingliedrig, trägt Anzug und Krawatte, und anders als Bernd Jentzsch verteilt er Visitenkarten. Darauf steht "Guido Beermann, Referent Büro des Parlamentarischen Geschäftsführers Eckart von Klaeden MdB, CDU/CSU Fraktion im Deutschen Bundestag, Platz der Republik 1, 11011 Berlin". Viele Einsen und viel Schwarz-Rot- Gold. Beermann arbeitet im Zentrum des neuen Deutschlands, und hier, in seinem Büro, erzählt Beermann von seinem Leben. Die Sekretärin reicht Kaffee. Beermann hat ein sehr katholisches und geradliniges Leben gelebt. Im Münsterland geboren, zieht er mit der Familie erst nach München, später nach Königswinter bei Bonn. Er besucht ein Jungengymnasium und studiert dann Jura, der Vater ist Bundesrichter. Beermann heiratet mit 25, wird im selben Jahr Vater und sitzt mit 28 im Kanzleramt in Bonn, als Referent im Bereich Kunst, Kultur und Kirchen. Als die Regierung in die neue Hauptstadt zieht, gehört er zu jenen, die sich Berlin, diesen großen, grauen Stadt-Osten, nicht zutrauen. Mit seiner Frau fährt er durch die Randgebiete, im Kopf "ein Raster: Die Lage an sich. Ein Ort, der durch viel Grün besticht. Möglichst viele Familien." Beermann prüft Kleinmachnow und sieht: "Es gibt zwei Grundschulen und ein Gymnasium." Eine Realschule hätte ihn wohl nie interessiert. Kleinmachnow schien zu passen in Beermanns Bild vom Leben, die bildungsbürgerliche Geradeausbiografie war möglich hier, auch für seine Kinder.

Kein Jahr später aber saß Beermann schon in den Versammlungen der Kleinmachnower CDU, weil es in der Bildungspolitik doch nicht so lief, wie er es wollte. Mit am Tisch saß Jentzsch. Der hatte hier in den letzten 30 Jahren Kommunalpolitik gemacht. In Kleinmachnow tobt seit Jahren ein Streit um die dritte Grundschule. Es sind so viele Familien hergezogen, dass die Gemeinde bei den Vier-, Sieben- und Achtjährigen bis zu fünffach über dem Bundesdurchschnitt liegt. Die beiden Grundschulen mussten in diesem Sommer neun erste Klassen aufnehmen, Beermann nennt sie "Bildungsfabriken". Er hat das auch in der CDU gesagt, immer wieder. Da muss Jentzsch der Kragen geplatzt sein.

Warum eine neue Grundschule bauen?, fragte Jentzsch, es reiche doch, "Container aufzustellen für die zwei, drei Jahre", in denen die Kinder der Zugezogenen durch die Schulen geschleust werden müssten, Kleinmachnow sei ja nun voll, zugebaut, da komme keiner mehr nach. Beermann aber meinte, dass es schon jetzt so eng sei in den Schulen, zeige, "dass mancher in der Vergangenheit versäumt hat, die richtigen Weichen zu stellen".

So geht das im Wechsel. Jentzsch in seinem Wohnzimmer sagt, die Neuen wollten alle Premium- Bildung für ihre Kinder, "die sind jetzt dafür, dass es eine Grundschule gibt, und hinterher brauchen wir noch 'ne Universität!" Jentzschs Stimme überschlägt sich fast, er berlinert sich von einem Argument zur nächsten Anfeindung, bis zu dem Hinweis, wie man in Kleinmachnow die Wessis erkenne: "Am Brotstand. Wenn die Kinder einfach hinter die Theke gehen und sich ein Brötchen holen, weiß ich, das sind Zugezogene. Oder wenn eine Dame sagt: ›Ich wollte die Brotscheiben fünf Millimeter dick und nicht acht.‹ Das würde von uns Altkleinmachnowern keiner sagen."

Jentzsch sagt immer "Altkleinmachnower" und "Zugezogene", er benutzt die Begriffe wie Gattungsbezeichnungen. Den Neuen gesteht er Kleinmachnow nicht zu, noch nicht mal im Namen.

Guido Beermann in seinem Büro spricht so, als rede er auf der Bundespressekonferenz. "Wir möchten die Bedingungen schaffen, dass es Familien immer möglich sein wird, nach Kleinmachnow zu ziehen", sagt er. "Im Prinzip könnte der Ort ein Paradebeispiel dafür sein, wie eine Gemeinde demografisch aufgestellt sein sollte", sagt er. "Will man hier nur den Mangel verwalten?", fragt er. Er will doch nur das Beste für den Ort. Im Übrigen: Seine Töchter seien 8, 10 und 13, die würden von der Weichenstellung im Schulbereich nicht mehr profitieren. Beermann hat sein Kanzleramtsvokabular bis nach Kleinmachnow getragen.

Natürlich geht es in diesem Streit um mehr als nur die dritte Grundschule. Jenen, die herzogen, geht es um das Herstellen privaten Glücks - und jenen, die schon da waren, um das Bewahren des privaten Glücks. Aber Gemeinsamkeit kann kaum aufkommen, wenn Zöglinge zweier Systeme jeweils um Kontinuität bemüht sind. Die jungen Eltern werfen den Alten vor, die seien aus der DDR "Masseninstitutionen" gewohnt, aber das sei nicht mehr zeitgemäß seit Pisa. Die Alten sehen eine neue Klassengesellschaft entstehen, gegliedert nach Bildungsgrad. Es geht hin und her, schnell wurde dabei im CDU-Ortsverein der Widerspruch Prinzip, ob beim Bau des neuen Rathauses oder beim Streit um Tempo-30-Zonen. Was den Wessis wichtig war, war den Ossis unwichtig. Was die Ossis zu groß fanden, war den Wessis zu klein. Und andersherum.

Als 2003 die Kandidatenliste für die Kommunalwahl erstellt wurde, stammten 24 von 28 Kandidaten aus dem Westen, was nicht ganz den Kräfteverhältnissen in der Partei entsprach, die allerdings auch schon zu 70 Prozent aus Zuzüglern besteht, angeführt von Ludwig Burkardt, vor Jahren schon Stadtdirektor in Goslar. Als die Neuen sich durchsetzten, zog eine Gruppe um Jentzsch aus dem Saal und gründete die Partei Pro Kleinmachnow. Im Wahlkampf plakatierte die CDU mit dem Slogan "CDU macht Schule", Pro mit "Bürger statt Politprofis". Die CDU bekam 22,1 Prozent, Pro Kleinmachnow 6,7.

Guido Beermann ist jetzt Vorsitzender des Schulausschusses, die dritte Grundschule ist beschlossen. Bernd Jentzsch sitzt nicht mehr in der Gemeindevertretung, er schreibt dafür Leserbriefe an die Märkische Allgemeine Zeitung, die mit Sätzen wie diesem enden: "Denk ich an Kleinmachnow in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht."

Der Westdeutsche fragt, ob er Jahre warten muss, um mitreden zu dürfen

Es ist sehr verlockend, Jentzsch und Beermann als die großen Gegensätze zu beschreiben. Jentzsch als den Jammerossi, der den demografisch bedingten Verlust seiner Mehrheit nicht verwunden hat, der am 11. November 1989 mit seiner Frau auf dem Ku'damm stand und sich vom Begrüßungsgeld einen Döner kaufte, ein Diplomingenieur, der im VEB Kraftverkehr gearbeitet und immer in Kleinmachnow gelebt hat. Daneben Beermann als den Besserwessi, den Mobilen, Flexiblen, immer nah der Macht. Aber dann sagt Jentzsch, "so gut wie nach der Wende ist es mir in den ganzen 40 Jahren Sozialismus nicht ergangen", und Beermann ist ohnehin viel zu erfahren im öffentlichen Auftritt, als dass er ausfällig würde gegen Jentzsch. Er sagt, dass die große Mehrheit der örtlichen CDU-Mitglieder zwar aus Zugezogenen bestehe und dass diese neue Mehrheit zu einer neuen Politik geführt habe, aber der Ortsvorsitzende sei seit Jahren ein Ostdeutscher, jüngst erst mit überwältigender Mehrheit gewählt, "fast im sozialistischen Sinne".

Vielleicht sind das die Bemerkungen, die Jentzsch so verletzen. Fast im sozialistischen Sinne! Er, Jentzsch, war es doch, der noch vor dem Mauerfall dafür gesorgt hat, dass die Leninallee wieder in Hohe Kiefer umbenannt wurde! "Ich habe auch eine Menschenwürde, ich habe auch mein Leben geführt", sagt er. Nur interessiert sich niemand mehr dafür.

Vielleicht wären die Neuen im Ort tatsächlich etwas weniger selbstbewusst aufgetreten, wenn es eine Schule in Bayern und nicht in Brandenburg gewesen wäre, die um halb acht zum Unterricht läutet.

Zu spät. Im Laboratorium der Einheit lassen sich die Ingredienzien nicht mischen, in der Gemeindevertretung sitzen inzwischen neun Parteien - auf der einen Seite des Ost-West- Spektrums die Koalition aus Pro Kleinmachnow und Lokalunion, von einigen in der CDU nur "Pro- Lo" genannt, auf der anderen Seite WIR, eine fast reine Westpartei, deren Chef John Banhart, Professor an der Berliner TU, für Zebrastreifen und Aufpflasterungen kämpft, weil ihm "die Ostdeutschen" zu schnell fahren. Dazwischen sieben andere Gruppierungen. Beermann spricht da manchmal von "Kleinweimar".

Klar, er will die Mitte besetzen, ganz wie in der großen Politik, aber in der Mitte sitzt schon Bürgermeister Wolfgang Blasig, SPD, dem von seiner Zeit im Neuen Forum noch der Vollbart geblieben ist und der jetzt gerne präsidiale Reden hält, in denen er sagt, dass "die einen sehr unsensibel und die anderen überempfindlich" seien in Kleinmachnow. Da treffe "eine Auslese von Menschen, die in der Gesellschaft gut zurechtkommen, die in ihrem mit Bedacht gewählten Wohnort ihre Wünsche klar artikulieren" auf eine ostdeutsche Generation, die ihr halbes Leben lang gelernt habe, Kritik, Bedürfnisse und Meinungen eher vorsichtig zu äußern.

Daran flammt der Streit immer wieder auf, wird instrumentalisiert in Parteislogans und auf Plakaten und immer wieder in den Ort getragen, in dem sich am Anfang nur die politische Klasse entzweit hat, in dem man am Ende aber merkt, dass sogar der Bürgermeister nicht über allem schwebt. Auch seine SPD zerreißt es fast in Ost und West, und er, der Ostdeutsche, sagt dann, einige Westler benähmen sich, als hätten sie ein "All-inclusive-Leben" gebucht.

Und sofort geht es wieder von vorne los. Professor Banhart unterstellt dem Bürgermeister, das neue Ortszentrum sei "nahe an der Korruption" entstanden, woraufhin Banhart anonyme Briefe erhält, in denen steht, er solle mit seiner "Brut" dorthin zurückgehen, wo er hergekommen sei. Guido Beermann fragt dann, wann eigentlich Mitbestimmung begänne, wenn nicht am ersten Tag des Zuzugs, woraufhin Bernd Jentzsch sagt, er verbitte sich Grundkurse in Demokratie.

Wenn man das alles nicht mehr hören kann, hilft es vielleicht, den Notizblock wieder zu schließen und da wieder nur den Namen sein zu lassen, Kleinmachnow, und der Name klingt so friedlich. Man durchquert dann wieder den Kiefernwald, in dem es nach Harz und Herbst riecht, biegt vom Stolper Weg links ab und fährt an der Auffahrt Dreilinden auf die Autobahn 115 hinein in die Hauptstadt, die bald 15 Jahre Mauerfall feiern wird. Im Autoradio reden sie schon über den 9. November 1989 und all die Freude, die damit verbunden war.