PNN 12.5.14

Iwan Potapenko war Nummer 1066 Früherer Zwangsarbeiter zu Gast in Kleinmachnow

von Kirsten Graulich

Teltow - Als Iwan Potapenko in den dunklen Waggon steigen muss, ist er nur noch Nummer 1066. Die Zahl hat sich in sein Gedächtnis gebrannt. Eingepfercht sitzt er mit 40 anderen jungen Leuten in dem Zug, der sie und Tausende andere Zwangsarbeiter nach Deutschland und auch Kleinmachnow bringen sollte. Am Freitagabend las der heute 87-jährige Iwan Potapenko in der Kleinmachnower Auferstehungskirche aus seinen Erinnerungen als Ostarbeiter. Eingeladen hatten ihn Gemeinde und Heimatverein.

Der damals 14-jährige Ukrainer gehörte zu den ersten von über zehn Millionen Zwangsarbeitern, die im Frühjahr 1942 nach Deutschland deportiert wurden, nachdem sie auf der Straße oder zu Hause festgenommen worden waren. In Deutschland sollten sie in der Rüstungsindustrie die deutschen Männer ersetzen, die im Kriegseinsatz waren. Detailreich und zugleich anrührend beschreibt Potapenko dieses Kapitel seines Lebens, in dem er für Deutsche nur als Nummer existiert.

Welche gravierenden Einschnitte die Zwangsarbeit hinterließ, wurde in Deutschland erst spät erkannt. Auch in Kleinmachnow war die Dreilinden Maschinenbau GmbH, eine Bosch-Tochterfirma, mit ihrem firmeneigenen Konzentrationslager lange Zeit ein weißer Flecken in der Geschichtsschreibung. Erst mit einem Zufallsfund von Personalakten Ende der 1990er-Jahre startete die Aufarbeitung. Potapenkos Erzählungen tragen nun dazu bei, ein Bild von den Strukturen und dem Leben im Lager zu erhalten.

Hunger war vor allem für die Ostarbeiter allgegenwärtig, erzählt Potapenko. Sie standen in der Hierarchie der Zwangsarbeiter ganz unten. Ein Brotlaib musste abends unter sieben Leuten geteilt werden. Morgens gab es wässrige Steckrübensuppe. Nach diesem Frühstück trieben die Aufseher die Arbeiter aus den Baracken: „Raus! Schnell! Russische Schweine!“, sagt Potapenko. Vor der Tür bekam jeder noch einen Schlag mit dem Stock, dann wurden sie ins Werk geführt.

„Alle träumten davon, irgendwann in dem Schweinestall auf dem Lagergelände zu tun zu bekommen“, erzählt Potapenko. „Dorthin brachte ein Franzose Speisereste. Sobald er ankam, stürzten sich die Russen auf die Essensreste. Die Schweine mussten hungrig bleiben.“

Manchmal bekamen die Ostarbeiter etwas von der höheren Ration der anderen Zwangsarbeiter ab, die privilegierter waren, wie beispielsweise Holländer und Franzosen. Die durften sich zudem im Ort frei bewegen und auch Pakete aus ihrem Heimatland empfangen. Erst nach einiger Zeit erkannte auch das Reichsministerium für Ernährung, dass 200 Unterernährte niemals die Arbeitsleistung von 100 Vollernährten erbringen können.

Nach einem Jahr öffneten sich auch für die Ostarbeiter im Kleinmachnower Lager die Tore. Staunend sei er mit einer Gruppe aus zehn Leuten, zu denen auch junge Mädchen gehörten, durch enge Straßen mit Bordsteinkanten gezogen, zu deren beiden Seiten sich Häuser mit roten Dächern und blühenden Vorgärten reihten. Die Mädchen waren so fasziniert, dass sie Sträuße pflückten und sich Blumen ins Haar steckten.

Erst als 20-Jährigem gelingt es Iwan Potapenko, in seiner Heimat versäumte Bildung nachzuholen und Veterinärmedizin zu studieren. Später wird er Leiter einer Kolchose mit 2000 Rindern.

Sein Buch „Ostarbeiter. Erinnerungen nach 60 Jahren Lebens in der Ukraine“ kann über den Heimatverein für 7 Euro erworben werden. Kirsten Graulich