PNN 25.10.2011

 

Bevor das Kind in den Brunnen fällt

von Ariane Lemme

Seit 20 Jahren kämpft der Kleinmachnower Verein Stibb e.V. gegen sexuelle Gewalt an den Schwächsten

Kleinmachnow - Der sexuelle Missbrauch an Kindern wird sich vermutlich nie ganz aus der Welt schaffen lassen. Davon war Justizminister Volkmar Schöneburg (Linke) bei der Eröffnung der Kinderschutztage im Kleinmachnower Rathaus am Montagmorgen überzeugt. Wohl aber lasse sich die Zahl der Fälle verringern. Das Sozialtherapeutische Institut Berlin-Brandenburg (Stibb e.V.) arbeitet von Kleinmachnow aus bereits seit 20 Jahren daran, seit zehn Jahren touren die Mitarbeiter mit der Ausstellung „Un-Heimliche Macht – gegen sexuelle Gewalt an Kindern“ durch Brandenburgs Schulen.

Nun soll ein neues Instrument dazukommen: Mit dem Schattentheater-Stück „Gib nicht auf“ wollen die Pädagogen des Stibb Kinder mit Missbrauchserfahrung ermutigen, sich Hilfe zu holen – bei Freunden, Lehrern oder den Eltern. Das Schweigen zu überwinden sei deshalb so schwierig, weil die Täter in 95 Prozent der Fälle keine Fremden, sondern Bekannte oder Familienangehörige seien, erklärt Stibb-Vorsitzende Annelie Dunand. Oft genießen sie das Vertrauen der Eltern, geben sich nach Außen hin charmant und hilfsbereit. Betroffen sind Kinder aller Altersgruppen, ein Schwerpunkt liegt aber bei den 6- bis 12-Jährigen.

Motiv für die Täter sei häufig der Machtgewinn, so die Therapeutin Regine Reichwein. Oft seien sie in ihrer Kindheit selbst missbraucht oder misshandelt worden – zurückgeblieben sei dann das Gefühl der Ohnmacht. Mit der Unterwerfung Schwächerer versuchten sie die eigene Hilflosigkeit zu überwinden. Um an die Kinder heranzukommen, würden sich die Täter mit den Eltern gut stellen und ihre Hilfe anbieten, etwa als Nachhilfelehrer. „Die Täter befriedigen die Bedürfnisse der Eltern – und missbrauchen die Kinder“, so Reichwein.

Härtere Strafen für Pädophile führten deshalb nicht weiter. Missbrauch sei nicht allein ein Problem der meist männlichen Täter, sondern eines der gesamten Gesellschaft, so Schöneburg. Vor allem die Gesellschaft sei gefordert, aufmerksam mit dem Thema umzugehen: „In einer Kultur des wissenden Hinschauens haben Täter es schwer.“ Die Justiz greife meist erst, wenn das Kind buchstäblich in den Brunnen gefallen sei, so Schöneburg. Er plädierte dafür, Pädophile als differenzierte Persönlichkeiten zu betrachten, anstatt sie zu dämonisieren. Im Strafvollzug müsse deshalb vor allem therapieorientiert mit ihnen gearbeitet werden. Dabei appellierte Schöneburg auch an die Landtagsabgeordneten, diese Chance nicht durch Personalkürzungen zu vertun.

Laut einer jüngsten Studie ist die Zahl von Missbrauchsfällen unter den Befragten in den vergangenen 20 Jahren leicht zurückgegangen – von acht auf etwa zwei Prozent. Im selben Zeitraum hat die Zahl der Beratungen beim Stibb e.V. kontinuierlich zugenommen, rund 7 000 waren es insgesamt. Mit 768 Klienten bildet das Jahr 2009 dabei einen vorläufigen Höhepunkt, im vergangenen Jahr ging die Zahl der Hilfesuchenden dann erstmals wieder zurück auf 603 Beratungen.

Doch auch wenn die Statistik anderes sagt, hätten viele Menschen das Gefühl, die Zahl der Missbrauchsfälle nehme zu, sagte die Bundestagsabgeordnete Andrea Wicklein (SPD). Das liege auch an der wachsenden Sensibilität dem Thema gegenüber – für Wicklein ein entscheidender Schritt nach vorne. „Auch die Arbeit von Netzwerken wie dem Stibb kann eine Kultur des Hinschauens nicht ersetzen.“ Dazu trügen nicht nur gut ausgebildete Lehrer und Erzieher bei, sondern auch die ehrenamtlichen Mediatoren und Streitschlichter an Schulen, betonte Bernd Bültermann, Rektor der Kleinmachnower Eigenherd-Grundschule.