PNN 14.03.09

 

Von Kirsten Graulich

Zerbrechlicher Schutz

Marianne Degginger und ihre "Mischlings-Kindheit" in Kleinmachnow (14.03.09)

Kleinmachnow - Einmal habe sie den besten Aufsatz der Klasse geschrieben, erinnert sich Marianne Degginger an ihre Schulzeit in der Kleinmachnower Eigenherd-Schule. Es war im September 1942, die 76-Jährige war damals zehn Jahre alt. Ob sie den dafür ausgelobten Preis je erhielt, weiß sie nicht mehr, obwohl sie lange darüber nachgedacht hat. Nur, dass die Erwachsenen seinerzeit diskutierten, ob man ihr, einem „Mischling“, den Preis überhaupt zuerkennen kann.

Die Bezeichnung „Mischling“ für Deutsche jüdischer Abstammung hatte 1933 Eingang in die Umgangssprache gefunden. Für die Betroffenen war sie ein Stigma, das sie herabwürdigte und ihr Leben mit Vorschriften einschränkte. Das Gefühl, zurückgestoßen zu werden, kannte Marianne Degginger bereits: Schon mit fünf Jahren erlebte sie, dass Nachbarskinder nicht mehr mit ihr sprechen durften. „Schwieriges Überleben“ lautet der Titel des Buches, das Marianne Degginger über diese Zeit und die wechselvolle Geschichte ihrer Familie schrieb.

Das Buch, das voriges Jahr im HartungGorre Verlag erschien, stellte die Autorin kürzlich im Kleinmachnower Heimatverein vor, in dem sie selbst Mitglied ist. Ein Satz hat sich dem Kind tief eingebrannt: „Ich bin doch an allem Schuld.“ Immer wieder hört sie den Stoßseufzer der Mutter, die nach den Rassengesetzen der Nazis als Jüdin gilt, obwohl sie ihre Kinder im christlichen Glauben erzieht. „Sie hat dieses Schuldgefühl auch auf mich übertragen“, berichtet Marianne Degginger. Nach Kriegsende benötigt sie Jahre, um ihre „Minderwertigkeitskomplexe in den Griff zu bekommen“. Der Vater, ein „Arier“, der in der Berliner Reichs-Kredit-Gesellschaft arbeitete, war der Fels in der Brandung für die kleine Familie, zu der ab April 1936 auch Mariannes jüngerer Bruder Hans-Martin gehört. Er kommt in London zur Welt, um das Kind besser schützen zu können, wie die Eltern hoffen. Denn allen Kindern, die in England geboren werden, wird automatisch die englische Staatsbürgerschaft zuerkannt. „Es wird sich schon alles regeln“, schreibt der Vater nach England an die Mutter und berichtet stolz von den Ernteerträgen im heimischen Kleinmachnower Garten.

Die Tochter ahnt zu dieser Zeit wenig von den Sorgen der Eltern, die bemüht sind, alles Belastende von ihr fernzuhalten. Im Nachhinein scheint es Marianne Degginger, als wenn ihre Eltern auch vieles verdrängt haben. Nie wurde über eine Ausreise gesprochen. Als sie fragt, warum nicht gleich die ganze Familie nach England gegangen sei, erhält sie die Antwort: „Wir können doch Omi und Opi nicht allein lassen.“ Im Frühjahr 1942 lebt Mariannes Großmutter in einem Judenhaus, im August wird sie von Frankfurt (Main) nach Theresienstadt deportiert. Die Familie schickt Päckchen, bis Anfang Februar 1944 eine Postkarte den Tod der Großmutter vermeldet.

Auch andere Verwandte der Mutter werden Opfer der Nazis. Die Familie befürchtet, auch die Mutter könnte deportiert werden – die „privilegierte“ Ehe war ein zerbrechlicher Schutz. Hinzu kommt die schwierige Versorgungslage, die Angst vor den zunehmenden Luftangriffen. Mit beiden Kindern weicht die Mutter ins sächsische Eibenstock aus, zu einer „arischen“ Verwandten. Die Kinder gehen dort zur Schule und sind als „arische“ Schüler angemeldet, die Papiere aus der Kleinmachnower Schule liegen noch nicht vor. Sie wurden niemals abgeschickt. Zum Glück, sagt Marianne Degginger, habe sich eine Rathaus-Beamte an ihr Versprechen gehalten, alle diesbezüglichen Nachfragen zu ignorieren.

Auch eine Denunziation verbleibt in der Schublade des Gemeindeamtes – und „das geschah ganz sicher im Einvernehmen mit dem Bürgermeister“, glaubt Degginger heute. Der hatte nach Recherchen des Heimatvereines bereits im Sommer 1943 nach oben gemeldet, Kleinmachnow sei judenfrei – wohl wissend, dass zu dieser Zeit noch 155 Personen jüdischer Abstammung im Ort lebten.

Marianne Degginger, „Schwieriges Überleben“, Hartung-Gorre Verlag 2008