PNN 31.12.08
Eine Silvestergeschichte, wie sie wohl nie stattfinden
wird oder von der man nie erfahren würde
Von Peter Könnicke
Albers legte den
Stift hin, streckte den Kopf in den Nacken und blickte an die Decke. Die
Deckenstrahler warfen ein grelles Licht hinunter und wenn man einen Moment zu
lange ins Licht sah, blendete es einen, so dass die Augen zu schmerzen
begannen. Bernd Albers holte tief Luft, blies leicht die Backen auf und stöhnte
leise. Genau diese Art von Fragen hatte er befürchtet. Er hatte sich ohnehin
dagegen gewehrt, dass Enser die Fragen aussucht, da er geahnt hatte, dass der
besonders fies sein würde. Immerhin hatten sie sich darauf geeinigt, dass es
verschiedene Bereiche gibt: Physik, Haushaltslehre, Recht und – dank Gerhard
Enser, dem Herrn Offizier a.D. – Luft- und Raumfahrt.
Fast das ganze Jahr hatten die drei Bürgermeister gestritten, wo das neue
Gymnasium gebaut werden soll. Kleinmachnows Wolfgang Blasig zelebrierte wie
immer die große diplomatische Geste und ließ mit großen Worten alles offen:
„Ich kann mir vorstellen, dass das
Gymnasium auch außerhalb Kleinmachnows sein kann. Aber ich werde jetzt nicht
sagen, was ich mir vorstelle. Das wäre dumm.“
Thomas Schmidt aus Teltow war da schon unverblümter: „Also bei uns ist massig
Platz. Die alte Schule steht leer. Und ein paar andere Gebäude auch. Wir können
gern über alles reden, aber in Teltow geht was.“
Für Bernd Albers aus Stahnsdorf kann es indes nur einen Ort geben: Stahnsdorf.
Zwar streiten sie dort noch, wo genau die Schule gebaut werden soll, aber dass
es in Stahnsdorf sein soll, ist klar. „Kleinmachnow hat schon eins, Teltow
auch. Jetzt sind wir dran, das ist gerecht“, legte Albers fest.
„Pah“, dachte Blasig, „gerecht. Junge, du musst noch viel lernen.“
Es war bei der privaten Abschiedsfeier von Landrat Lothar Koch, als sie sich
einigten, nach welchen Kriterien sie letztlich entscheiden werden. „Irgendwas
müssen wir entscheiden. Und wenn das meine letzte inoffizielle Amtshandlung
wird“, hatte Koch gesagt. „Heute Abend wird das geklärt“, legte er fest und
fügte hinzu: „Wie auch immer. Prost!“
Albers fragte stutzig: „Wie, inoffizielle Amtshandlungen?“
„Das ist jetzt nicht das Thema und tut auch nichts zur Sache“, wiegelte Koch ab
und murmelte leise zu Blasig: „Der muss aber noch viel lernen.“
„Wir könnten Flaschendrehen machen“, meinte Schmidt.
Albers schaute ihn fragend an: „Sie wollen, dass wir uns drehen? Und dann? Wer
als letzter steht, hat gewonnen, oder wie?“
„Quatsch“, sagte Schmidt. „Kennen Sie etwa kein Flaschendrehen?“
„Nee, kenn ich nicht“, sagte Albers. „Sie vielleicht?“, fragte er Blasig.
Der antwortete: „Kommt drauf an.“
„Flaschendrehen ist Quatsch“, befand Enser. „Da sind die Regeln zu schwammig,
da hab ich keine Lust drauf.“
„Wieso Sie eigentlich?“, fragte Albers. „Sie machen doch gar nicht mit. Ich bin
jetzt der Bürgermeister in Stahnsdorf, falls Sie es noch nicht bemerkt haben.“
„Aber ich bin jetzt Präsident“, erwiderte Enser.
„Ja, vom Kreistag“, sagte Albers. „Na und?“
„Ist doch klar“, erklärte Enser, „das Gymnasium wird vom Kreis gebaut und da
bestimme ich auch ein bisschen mit, weil ich Präsident vom Kreis bin …“
„… ähm, Präsident vom Kreistag, nicht wahr“, korrigierte Blasig.
„Wie auch immer. Ich bin Präsident und mache mit“, legte Enser fest.
Albers, Blasig, Schmidt und Enser standen zusammen etwas abseits der anderen
Gäste der Koch’schen Abschiedsparty und suchten angestrengt nach einer
Möglichkeit, wie sie die verdammte Gymnasiums-Frage klären sollten. Blasig
überlegte, ob er eine ernsthafte Chance im Armdrücken haben würde. „Den Schmidt
schaffe ich vielleicht, wird zwar knapp, aber den bieg ich um. Aber der Albers?
Der ist ja gut 15 Jahre jünger …“ Albers blickte gedankenverloren zu Landrat
Lothar Koch hinüber, der ihn mit einem breiten Lachen zuprostete und dabei
väterlich mit dem Kopf nickte.
Neben Koch stand Matthias Platzeck, der nahezu euphorisch auf ihn einredete.
„Hörst du Lothar, in Mathe von zwölf auf acht. Das sind vier Plätze besser. Das
ist Wahnsinn. Wenn wir so weitermachen, sind wir das nächste Mal Vierter, äh
Dritter. Und dann bald Spitze.“ Platzeck sah Koch mit großen Augen an.
„Lothaaar, Spitze! Brandenburg Erster bei PISA, verstehste.“
„Ich hab’s“, rief Koch und schüttelte Platzeck an den Schultern. „Matthias, ich
hab’s.“
„Na also“, sagte Platzeck. „Darauf trinken wir einen. Achter in Mathe, irre.“
Doch Koch drehte sich um und hüpfte mit beiden Armen winkend auf die drei
Bürgermeister zu. „Ich hab’s. Ich bin‘s. Ich weiß wie wir es machen.“
„Ach“, machte Schmidt.
„Da bin ich ja mal gespannt“, sagte Blasig.
„PISA“, rief Koch, „Wir machen PISA.“
„Wie, PISA?“, fragte Albers.
Schmidt riss die Augen auf und hob beide Hände: „Ich hab aber Flugangst?“
Koch sah ihn verstört an, schüttelte etwas irritiert den Kopf und legte los:
„Männer, es geht doch um Schule, oder? Also um Bildung und so weiter. Und da
gibt es doch diesen PISA-Test, und den machen wir – also, ich meine, den machen
Sie, meine Herren. Sie müssen eine Reihe von Fragen beantworten und wer der
Beste ist, kriegt das Gymnasium. Das ist echte Demokratie, Wahnsinn: Sie sind
die Repräsentanten ihres Ortes, Sie sind das Spiegelbild der Einwohnerschaft
und der Schlauste von Ihnen kriegt das Gymnasium. Ist das nicht genial? Das ist
genial“, hechelte Koch und sah – völlig außer Atem – von einem zum anderen.
„Na?“
„Gar nicht so doof“, meinte Blasig.
Albers haderte: „Ich weiß nicht. Müsste nicht der Schlechteste das Gymnasium
kriegen. Ich meine, die haben es doch dann viel nötiger als die, die schon
schlau sind.“
„Was sind denn da so für Fragen?“, wollte Schmidt wissen.
„Die Fragen stell ich“, rief Enser sogleich.
Albers riss die Arme hoch: „Auf keinen Fall.“
„Doch. Ich bin der Präsident.“
„Lasst uns das ganz diplomatisch klären“, schlug Blasig vor. „Jeder von uns hat
doch sein Fachgebiet. Ich bin ja eigentlich Physiker und der Herr Schmidt hat
Koch gelernt. Und sie, was sind sie eigentlich?“, fragte Blasig den Kollegen
Albers.
„Ich bin Bürgermeister von Stahnsdorf.“
„Ja, aber sonst. Sie müssen doch was Richtiges gelernt haben.“
„Ja. Ich bin Jurist. Diplom-Jurist, um genau zu sein“, sagte Albers.
„Diplom also, hmm“, sagte Blasig.
Enser unterbrach die Beiden. „Also, wir machen das so. Es gibt insgesamt 30
Fragen: Zehn zu Physik, zehn zu Haushaltslehre inklusive Kochen und zehn
Rechtsfragen. Und dann noch eine Zusatzfrage zu Luft- und Raumfahrt.“
„Ähhh!“ Albers und Schmidt machten gleichzeitig große Augen und sahen Enser
fragend an.
„Wieso um Himmelswillen Luft- und Raumfahrt?“, fragte Blasig.
„Weil das mein Spezialgebiet ist. Ich war ja mal Offizier für Raketentechnik.
Und ich finde, in Anerkennung und Würdigung meiner Verdienste als Bürgermeister
in den letzten acht Jahren ist es ein schöner Zug, mich auf diese Art und Weise
Teil der Geschichte werden zu lassen. Wenn es einen Patt gibt, entscheidet die
Zusatzfrage.“
„Prima, wir machen PISA“, rief Koch.
In den Wochen nach der Abschiedsfeier von Landrat Koch waren Albers, Blasig und
Schmidt nur noch selten in der Öffentlichkeit zu sehen. Es waren vielerlei
Gerüchte im Umlauf. Es hieß, Schmidt hätte Albers während der Party zum
Armdrücken herausgefordert und einer von beiden habe sich dabei die Schulter
auskugelt. Ein anderes Gerücht erzählte, Blasig pilgere über den Jakobsweg, um
sich nach dem Kleinmachnower Bürgermeister-Job einer Selbstreinigung zu
unterziehen und sich für seinen künftigen Posten als Landrat inspirieren zu
lassen. Schmidt, so wurde gemunkelt, mache einen Boots-Führerschein, weil er
sich berufliche Perspektiven schaffen wolle, falls er im nächsten Jahr nicht
wieder zum Bürgermeister gewählt wird. Dann wolle er zur touristischen
Aufwertung der Kanalaue als Gondolero sommerabendliche Bootstouren vom
Teltowkanal über der Machnower See nach Potsdam anbieten mit romantischen
Picknicks am Ufer.
In Wirklichkeit aber bereiteten sich die drei Bürgermeister auf den großen
PISA-Test vor. Blasig las dutzende Kochbücher und sah sich jede Kochsendung an,
die es im Fernsehen gab: Das perfekte Dinner, Tim Mälzer, Aufzeichnungen von
Alfred Biolek. Zu Hause blanchierte und tranchierte, backte und kochte er.
Albers paukte vor allem Physik: Aggregatszustände, Fallgeschwindigkeit,
Spannung und Leistung, Masse mal Beschleunigung. Bei Ebay hatte er die gute
alte Ostfibel „Physik in Übersichten“ ersteigert, die er sich abends unters
Kopfkissen legte. Und Schmidt hospitierte in diversen Gerichtssälen.
Diebstähle, Betrug, Beamtenbeleidigung – jeden Prozess, den er besuchen konnte,
nahm er mit – am liebsten Scheidungsfälle.
Für den Test hatten sie einen Ort gewählt, der sowohl neutral wie auch
symbolhaft sein sollte: einen leerstehenden Gebäudekomplex, den vor Jahren
einmal die Siemens AG genutzt hatte. Er befand sich genau an der Grenze der
drei Orte, war unschuldig weiß und beherbergte bereits eine Grundschule. „Das
passt“, hatte Koch gesagt, „hier entscheidet sich, wie es weitergeht.“ Sie
hatten sich am Silvestermorgen verabredet. „Große Entscheidungen brauchen ein
besonderes Datum“, hatte Enser gemeint. Die Fragen waren nicht ohne. Manche
recht einfach, andere schwierig. Wie heiß muss die Herdumluft zum Auftauen
einer Tiefkühlpizza sein?
a) 180 Grad
b) 200 Grad
c) 220 Grad
Warum drehen sich die Flügel von Windrädern an höher gelegenen Orten bei
gleicher Windgeschwindigkeit langsamer? Wie funktioniert ein Generator? Gibt es
die Todesstrafe? Nimmt man zum Blanchieren kaltes, warmes oder kochendes
Wasser? Sie hatten eine dreiviertel Stunde Zeit und waren fast gleichzeitig
fertig. Bis auf diese bescheuerte Rechtsfrage: Was passiert, wenn zwei sich
streiten? Albers nahm den Stift wieder in die Hand und führte ihn über die
Antworten:
a) dann lacht Stahnsdorf
b) dann lacht Teltow
c) dann lacht Kleinmachnow
Albers sah hinüber zu Schmidt und Blasig. Die grinsten ihn an. Oh ja, er hatte
einiges gelernt. Albers kreuzte Antwort A an.
Um Mitternacht wird Enser das Ergebnis verkünden. Und er wird seine Zusatzfrage
parat haben: Wie hoch fliegt eigentlich eine chinesische Silvesterrakete?