Potsdamer Neueste Nachrichten 05.04.07
Gewalt
schon im Kindergarten
Missbrauch: Mehr minderjährige Täter / Sozial-Therapeutisches Institut plant
Mütterprojekt
Kleinmachnow - Die
Gewalt in den Kindergärten nimmt zu, auch die sexuelle Gewalt – das beobachten
die Mitarbeiter des Sozial-Therapeutischen Instituts Berlin-Brandenburg (STIBB)
mit Sitz in Kleinmachnow. Täter und Opfer würden immer jünger, sagte gestern STIBB-Psychologe
Ekkehard Ehler auf PNN-Anfrage. Zehn Prozent der Opfer seien erst zwischen
„null und sechs Jahren“. Das Institut, das sich um Gewaltopfer kümmert, hat
2006 insgesamt 600 Kinder und Jugendliche betreut.
Die Hälfte der Opfer stamme aus dem Landkreis Potsdam Mittelmark, rund 42
Prozent aus Potsdam und acht Prozent aus dem übrigen Brandenburg. Zwar seien
meist Familienmitglieder oder deren Freunde die Täter, so Ehler. Doch steige
auch die Zahl der Kinder, die ihren Altersgenossen „absichtsvoll“ Leid antun.
Es gebe Fälle, in denen kleine Jungen im Kindergarten als „Strippenzieher eine
Gruppe anderer Jungen dazu bringt, sich einzelne Mädchen zu greifen“, sagte Ehler.
Dies seien Einzelfälle, aber Ehler warnte davor, „solche Handlungen als
Doktorspiele abzutun“.
Das STIBB berät darum nun auch gezielt Kita-Erzieherinnen
zu diesem Thema. Es erfordere „viel Fingerspitzengefühl, um über die
Peinlichkeiten zu reden“, so Ehler und die Eltern darauf anzusprechen. Diese
seien besonders wichtig: „Wenn wir Kinder unterstützen wollen, müssen wir ihre
Eltern mit einbeziehen“, sagte Institutsleiterin Annelie Dunand. Die
minderjährigen Täter hätten es gelernt, „gezielt andere Kinder zu schwächen“,
erklärte Ehler. In ihrer nahen Umgebung werde ihnen das Verhalten vorgelebt. So
seien für einige Eltern die „Grenzen nicht mehr klar“. Manche würden etwa im
Beisein ihrer Kinder pornografische Werke konsumieren.
Oft beobachten die gewalttätigen Kinder zu Hause aber auch reale sexuelle
Gewalt oder sind selbst Opfer von Erwachsenen. Sie lebten meist in sozial
schwachen Familien – auch wenn es Gewalt in jeder Gesellschaftsschicht gäbe, so
Dunand.
Wenn Eltern ihre Töchter und Söhne seelisch und materiell nicht ausreichend
versorgen könnten, habe der erwachsene Täter aber ein leichteres Spiel,
erschleiche sich über einen längeren Zeitraum das Vertrauen der Familie und
schenke den Kindern Geld, Spielzeug oder Nahrung. Vernachlässigten oder wenig
selbstbewussten Mädchen und Jungen biete er zudem vermeintlichen Schutz oder
Anerkennung, so Dunand. Bei der Präventionsarbeit im Kindergarten spielen die STIBB-Mitarbeiter
den Kindern darum auch solche Szenen vor und zeigen ihnen, wie sie in ähnlichen
Situationen handeln sollen. Zum Beispiel, dass sie „petzen“ dürfen, ist ihnen
etwas nicht geheuer.
Meist suchen die Erzieherinnen oder Eltern der minderjährigen Opfer die Hilfe
des STIBB, so Ehler. An ihn und seine 14 Kollegen am Zehlendorfer Damm oder im
Kindertreff am Stern in Potsdam wenden sich überwiegend Mütter. Aber „es gibt
Frauen, die den Missbrauch unterstützen“ , so Dunand. Auch wenn weibliche Täter
Einzelfälle sind. Mütter, die den Missbrauch ihrer Kinder nicht wahrhaben
wollen sind meist „geschwächte Mütter, die selbst Gewalt erlebt haben“, sagte Ehler,
„oder sie fühlen eine Ohnmacht, weil sie das Leid ihrer Kinder nicht ertragen
können“. Manche stehen auch „in Abhängigkeit zum Täter“. Etwa, wenn der Täter
Vater, Lebensgefährte der Mutter oder ein anderer Verwandter des Kindes ist.
Für sie werde eine opferorientierte Familien-Therapie angeboten.
Das STIBB plant nun ein neues „Pojekt“, das sich speziell an Mütter richtet. Es
soll sie dabei unterstützen, „sensibler für den Schutz ihrer Kinder“ zu werden,
sich gegen die Täter zu wehren. Dunand appellierte auch an Jugendämter und
Lehrer, die Hilferufe der Opfer ernst zu nehmen: Zum Beispiel, wenn ruhige
Kinder sich plötzlich aggressiv verhielten. Manche würden selbst zu
Intensivtätern. „Wir haben Jungen mit 80 Delikten in der Beratung gehabt“, so Dunand.
Noch immer würden die Konsequenzen sexuellen Missbrauchs an Kindern auch bei
den Ämtern unterschätzt. mit dpa