Potsdamer Neueste Nachrichten 07.05.05

Anleitung zum neugierig sein

Marion Welsch aus Kleinmachnow erfuhr, ihr Opa solle ein Nazi gewesen sein und begann nachzuforschen. Das Buch, das entstand, ist Zeit- und Familiengeschichte – und Zeugnis des Ringens mit ihrem Vater

Von Volker Eckert

Kleinmachnow - Dass der Vater sich wehren würde, wusste Marion Welsch vorher. Aber die Reaktion des Bruders war ein Tiefschlag. „Lass unsern Vater in Ruhe, das hält er nicht aus“, hatte der gesagt. Nicht nochmal in den alten Geschichten wühlen, wozu denn? Lieber endlich einen Schlussstrich ziehen. Man kennt das.

Aber dafür war es nach Ansicht von Marion Welsch viel zu früh. Denn es gab noch einiges herauszufinden. Als sie mit ihrem Bruder telefonierte, war sie mit ihrem Projekt schon ziemlich weit vorangeschritten. Aber was war das für ein Projekt, worum ging es? Die Autorin sagt, „nicht um die Frage, ob Opa ein Nazi war oder nicht“. Darum, was der Vater wissen konnte. Was er bereit ist, zu offenbaren. Aber auch darum, mit ihm ins Gespräch zu kommen, ihn zu verstehen. Und mit ihm ein ganzes Volk, das Hitler begeistert in den Krieg folgte und hinterher von nichts gewusst haben wollte.

Vor drei Jahren fuhr Marion Welsch, die seit 1997 in Kleinmachnow wohnt, mit ihrem Vater in den Ort Guttau (der Name ist nicht der echte) im östlichen Brandenburg, wo die Familie bis vor 60 Jahren eine Tuchfabrik hatte. In einer Broschüre finden sich ein paar Sätze über ihren Großvater: dass er ein Nazi gewesen sei und seine Angestellten mit furchtbaren Methoden behandelt habe. Ihr Vater wird blass. Immer wieder sagt er: „Mein Papa war kein Nazi.“

Solche Sätze kennt die Autorin schon: „Alles Nazigegner in meiner Familie, gute Menschen.“ Aber stimmt das auch? Es hat Studien gegeben, die zeigen, wie Kinder und Enkel, die Geschichten ihrer Nazi-Vorfahren umdichten. Da haben dann Gestapo-Mitarbeiter Juden bei der Flucht geholfen und Ortsgruppenleiter Widerstandskämpfer gedeckt. Marion Welsch ist misstrauischer, denkt sich: Der Vater will seinen Vater schützen, weiß sicher mehr, als er – vielleicht sich selber – eingesteht. Nationalsozialismus, Holocaust, Marion Welsch kannte das wie jeder aus der Schule und den Medien. Jetzt hat das irgendwie mit ihrer Familie zu tun.

Also fängt sie an, Fragen zu stellen. Sie recherchiert im Internet, kramt alte Briefwechsel aus Archiven, fährt nach Guttau, veröffentlicht einen Aufruf, in dem sie nach Zeitzeugen sucht. Und sie löchert den Vater, der bei Kriegsausbruch 13 war, mit E-Mails: Wie war er, der Opa? Wie war das mit der Schließung der Fabrik 1942? Warum trat er in die NSDAP ein? Gab es Zwangsarbeiter, Juden? Was wusste man über die Deportationen?

Die Korrespondenz zwischen Vater und Tochter macht den größten Teil des Buches aus. „Ich bohre meine Fragen in den Kopf meines Vaters“, schreibt die Autorin. Gleichzeitig das schlechte Gewissen, den Vater zu bedrängen, einen alten Mann, die Angst, er könnte den Kontakt abbrechen. Doch der alte Mann bleibt stur: vom Holocaust nichts gewusst, der Parteieintritt seines Vaters: um die Firma zu retten, Juden waren Geschäftspartner.

Und so lässt Marion Welsch nicht locker, aus Neugierde und aus dem Gefühl heraus, bisher getäuscht worden zu sein. Das große Rätsel der deutschen Geschichte: Wie konnte das passieren? Hat man nichts gewusst oder nichts wissen wollen – wurde der Massenmord in Kauf genommen? Dafür immer nur Hitler als Schuldigen präsentiert zu bekommen, ist unbefriedigend. Das steht zwar nicht so in „Sprich mit mir“, aber es liest sich zwischen den Zeilen: Mit der Verdrängung der Eltern wächst das Verlangen der nächsten Generation, einen Schuldigen und damit eine Erklärung für das Unerklärliche zu finden – und sei es in der eigenen Familie.

Zwei Jahre lang beherrscht das Thema Marion Welschs Leben, liegt ihr Beruf als Lerntherapeutin auf Eis, um zu forschen und die Geschichte aufzuschreiben. Sie gräbt sich durch zahllose Bücher, geht in Archive, schreibt E-Mails, denkt nach, liegt nachts wach. Dabei entdeckt sie alte Briefwechsel, spricht mit Menschen und arbeitet so die Geschichte ihrer Familie auf – einer deutschen Familie im Nationalsozialismus. Die Schuldfrage, sagt sie heute, solle der Leser selber beantworten.

Jetzt sitzt sie in der Morgensonne am Platz vor dem Nauener Tor und wirkt entspannt. Die zwei Jahre sind vorbei, bei ihren Nachforschungen hat sie so viel herausgefunden, wie möglich war. Oder fast so viel. Vor drei Wochen ist das Buch erschienen und die größte Überraschung war: Ihrem Vater hat es gefallen.

Es ist noch nicht lange her, da erschien plötzlich eine ganze Reihe ähnlicher Bücher wie „Sprich mit mir“. In diesen Tagen ist die Perspektive wieder eine andere, es ist neben der deutschen Schuld auch von deutschen Opfern die Rede, von Vertreibung, Vergewaltigungen, Bombenopfern. Marion Welsch sieht darin keinen Widerspruch. Wenn sie zwischen Nationalsozialismus und heute eine Verbindung herstellt, spricht sie nicht nur von Rechtsextremen, sondern auch vom Irakkrieg. Die Weigerung da mitzumachen, ist für sie Ausdruck einer Verantwortung, die die Elterngeneration lieber noch nicht übernehmen wollte.

Beim List-Verlag hätten sie das Buch genommen, weil Marion Welschs Sicht auf ihren Vater immer eine mitfühlende bleibt: „Abrechnungen haben wir schon genug“, sagte die Lektorin. Zwar macht die Autorin die wesentlichen Entdeckungen nicht über ihren Vater, sondern in Archiven. Aber trotzdem wächst ihr Verständnis. Das Buch ist weniger an den Ergebnissen interessiert als an der Suche, dem Dialog. Obwohl es Marion Welsch ein bisschen unangenehm scheint, vielleicht weil sie nicht wie eine Missionarin klingen will, sagt sie: „Ich möchte andere ermutigen, ihren Eltern und Großeltern ebenfalls Fragen zu stellen.“ Das Buch als Gebrauchsanweisung.

Marion Welsch hat mittlerweile eine Idee für ihr nächstes Buch im Kopf. Das heißt aber nicht, dass ihre Familiengeschichte für sie erledigt ist. Vielleicht möchte sie sich in Guttau für das Projekt „Stolpersteine“ einsetzen, das es zum Beispiel in Berlin gibt. Bronzesteine mit Namen und Lebensdaten von Naziopfern werden in das Gehwegpflaster eingebaut, bezahlt von Spenden. Als Marion Welsch ihrem Vater davon erzählt, fragt er: „Bekommen wir auch einen Stolperstein, wir sind doch auch vertrieben worden?“

Am Donnerstag um 19.30 Uhr liest Marion Welsch in der Natura-Buchhandlung am Rathausmarkt.