Potsdamer Neueste Nachrichten 23.04.05

Lebensmüde Odyssee

Eduard Wilhelm war 13 Jahre, als die russische Armee nach Kleinmachnow kam. Er rettete einen Koffer voll Honig und sah seine Brüder sterben

Von Peter Könnicke

Kleinmachnow - Mit seinem damals 13 Jahren hatte sich Eduard Wilhelm an den Ton des Krieges gewöhnt. „Am Tag flog der Amerikaner, in der Nacht der Engländer.“ Doch in der Nacht zum 22. April, als die Stalinorgeln heulten, hatte er Angst. „Die Granaten waren ungemein laut. Man brauchte sie nicht zu sehen.“ Das Rauschen und Pfeifen durchdrang die Nacht, die er bei einem Freund in der Nachbarschaft verbrachte.

Eduard Wilhelm wurde 1932 geboren, ein Jahr bevor die Nazis an die Macht kamen. Er ist auf der Kleinmachnower Seite des Teltowkanals aufgewachsen. Im Brunnenweg der Raiffeisensiedlung, wo heute noch die Straßen löchrige Sandwege sind und die eher bescheidenen Häuser so gar nicht ins Bild des noblen Kleinmachnows passen. Ganz so, als seien die Wunden, die der 24. April 1945 in die Siedlung riss, noch immer nicht verheilt.

Bis zum Mittag des 23. April hockte Eduard Wilhelm im Splittergraben, der oberhalb der Siedlung ausgehoben und mit Baumstämmen, Dachpappe und Sand abgedeckt worden war. Die Russen waren bis zum Teltowkanal vorgerückt, wo sie an einigen Abschnitten auf heftige Gegenwehr der deutschen Infanterie stießen. „Mein Bruder hat mich dann aus dem Graben rausgeholt.“ Mit einem kleinen Koffer, in dem sich ein paar Gläser Kunsthonig befanden, wollten die Brüder nach Düppel, wo in der Reichsreiterschule ihre Schwester wohnte – ihr Mann war dort als Pferdepfleger angestellt. In der Nacht schliefen sie in einer Laube in Zehlendorf, die der ältere Bruder seit einiger Zeit als Unterschlupf nutzte. Er war von der Wehrmacht desertiert, wurde in Kleinmachnow festgenommen, nach Spandau abgeurteilt, wo ihm erneut die Flucht gelang. Am Morgen des 24. April wurden sie auf ihrem Weg von russischen Kampfbombern begleitet. Sie kauerten sich hinter Betonpfeiler, liefen weiter, versteckten sich wieder. Vor ihnen breitete sich ein Feld aus Bombentrichtern und Granateinschlägen aus. Auf der Potsdamer Chaussee stoppte ein Laster, der mit einer Granatladung zur Pfaueninsel unterwegs war. Eduards Bruder, der noch immer seine Uniform trug, wurde vom Fahrer aufgefordert mitzufahren. Er weigerte sich. Sie gingen weiter, den Honig noch im Koffer. Am Straßenrand standen verlassene Flakgeschütze. „Die Kanoniere hatten sich davongemacht.“

In den Königsweg, etwa 70 Meter vor der Reitschule, hatte sich ein riesiger Bombentrichter gefressen. Bruder Hans schickte Eduard Wilhelm allein weiter. Er lief los, im Kugelhagel russischer Jagdbomber. „Links und rechts spritzte der Sand auf.“ Eine Volkssturmgruppe mit Maschinenpistolen, angeführt von einem langen SA-Mann, kam ihm entgegen gerannt. „Sie griffen meinen Bruder auf. Ich hab mich noch mal umgedreht. Ein paar Schüsse fielen. Es war das letzte Mal, dass ich ihn sah.“ Tage später fand die Schwester nur noch die schwarze Panzer-Schirmmütze des Bruders. Er war 19.

„Ich bin zu meiner Schwester rein und habe den Honig abgegeben. Dann wollte ich zurück, aber sie hat mich nicht mehr rausgelassen. In der Nacht kamen die Russen. Die kämpfende Truppe hat nichts angerührt. Sie waren selbst ausgezehrt und müde.“

Im Keller der Reitschule verbrachte Eduard Wilhelm zusammen mit drei Familien und deren Kindern die Nacht. „Am nächsten Morgen wollten wir etwas essen. Eine Frau stellte eine Schüssel Suppe auf den Tisch, als ein betrunkener russischer Unteroffizier hereinkam und die Schlüssel vom Tisch schlug. Dann mussten wir uns an die Kellerwand stellen, er zog einen Revolver und wollte uns erschießen. Ein russischer Offizier machte dem Treiben ein Ende.“

Eduard Wilhelm sah, wie sich die Soldaten der nachrückenden Truppe an den Frauen vergingen. „Weil ich lange Haare hatten, hielten sie mich für ein Mädchen und wollten mich vergewaltigen.“ Dann fiel den Soldaten der schwarze Winteranzug des Jungvolks auf, den Eduard Wilhelm trug. „Sie betrachteten mich argwöhnisch. Später sollte ich ihnen zeigen, wie man mit einer Panzerfaust und einem Panzerschreck schießt. Das habe ich nicht gemacht.“

Wahrscheinlich wäre es sein Todesurteil gewesen, hätte Eduard Wilhelm gezeigt, dass er sich im Umgang mit den Waffen auskennt. An der Teltow-Werft hatte er beim Jungvolk gelernt, wie man mit einem Maschinengewehr umgeht und wie man Handgranaten wirft.

Am Morgen des 26. April machte sich der 13-Jährige allein auf den Weg zurück nach Kleinmachnow. In der Feldherrnhalle schnappten ihn russische Soldaten und hefteten ihn an seine Jungvolk-Jacke allerlei Nazi-Abzeichen, worüber „sie sich mächtig gefreut haben“. Nachschubkolonnen der Roten Armee kamen ihm entgegen. Er traf Menschen, die aus Berlin flohen, vereinzelt waren Gefangene unterwegs, die in den Arbeitslagern arbeiteten, wie es sie auch in Kleinmachnow gab. Am Sachtlebenweg pumpte er für Rotarmisten Wasser in einen Stahlhelm. Er lief über die Machnower Straße und den Schwarzen Weg. Aus einem Haus am Erlenweg wurde geschossen, russische Soldaten wurden getroffen. Die Russen reagierten sofort mit einem Gegenangriff. Alle Deutschen, die in der Gegend aufzufinden waren, wurden auf den Müllplatz an der Teltow-Werft getrieben. Vier Männer und Eduard Wilhelm wurden an die Wand eines Wärterhäuschen gestellt. „Es war mir egal, ob ich erschossen werde.“ Doch bevor die Schüsse fielen, erkannte ein russischer Offizier den Jungen unter den Männern und ließ ihn frei.

„Ich bin weitergelaufen bis zu unserer Siedlung.“ Aus den Fliederbüschen am Rand des Viertels lugten Rohre russischer Panzer hervor. Einige Plünderer kamen Wilhelm entgegen. Am Gartenzaun blieb der Junge stehen: die schmerzlichsten Erinnerungen werden gegenwärtig: „Unser Haus ist weg. Alles ist weg. Abgebrannt. Ich sehe zwischen den Grundmauern etwas Verkohltes liegen, ein Stahlhelm, den wir Kinder uns immer aufgesetzt haben. Dazwischen klemmten Knochensplitter …“ Mit einem Kopfschütteln beendet Eduard Wilhelm seine Odyssee: „Das war das Schlimmste!“

Notdürftig begrub er seinen achtjährigen Bruder im Garten. Die Fliegerangriffe, die Bomben und Schüsse hatten in abgestumpft. „Für Trauer war ich nicht mehr empfänglich. Ich hatte keine Tränen.“ Später erfuhr er, dass der jüngere Bruder zusammen mit den anderen Bewohnern der Siedlung im Splittergraben saß, der nazitreue Bürgermeister Erich Engelbrecht kam und meinte, es bestünde keine Gefahr, weil die Russen hier nicht herkämen.

Eduards Großvater, der an paar Häuser weiter im Ringweg wohnte, wurde durch eine Granate schwer verletzt und starb Tage später an den Verbrennungen. Zwei Häuser wurden in der Siedlung zerstört – eins im Ringweg und das der Wilhelms.

Es war eine deutsche Bombe, die auf das Haus fiel.