Eduard Wilhelm war 13 Jahre, als die russische Armee nach
Kleinmachnow kam. Er rettete einen Koffer voll Honig und sah seine Brüder
sterben
Von Peter Könnicke
Kleinmachnow - Mit seinem damals 13 Jahren hatte sich Eduard Wilhelm an den Ton
des Krieges gewöhnt. „Am Tag flog der Amerikaner, in der Nacht der Engländer.“
Doch in der Nacht zum 22. April, als die Stalinorgeln heulten, hatte er Angst.
„Die Granaten waren ungemein laut. Man brauchte sie nicht zu sehen.“ Das
Rauschen und Pfeifen durchdrang die Nacht, die er bei einem Freund in der
Nachbarschaft verbrachte.
Eduard Wilhelm wurde 1932 geboren, ein
Jahr bevor die Nazis an die Macht kamen. Er ist auf der Kleinmachnower Seite
des Teltowkanals aufgewachsen. Im Brunnenweg der Raiffeisensiedlung, wo heute
noch die Straßen löchrige Sandwege sind und die eher bescheidenen Häuser so gar
nicht ins Bild des noblen Kleinmachnows passen. Ganz so, als seien die Wunden,
die der 24. April 1945 in die Siedlung riss, noch immer nicht verheilt.
Bis zum Mittag des 23. April hockte Eduard Wilhelm im Splittergraben, der
oberhalb der Siedlung ausgehoben und mit Baumstämmen, Dachpappe und Sand
abgedeckt worden war. Die Russen waren bis zum Teltowkanal vorgerückt, wo sie
an einigen Abschnitten auf heftige Gegenwehr der deutschen Infanterie stießen.
„Mein Bruder hat mich dann aus dem Graben rausgeholt.“ Mit einem kleinen
Koffer, in dem sich ein paar Gläser Kunsthonig befanden, wollten die Brüder
nach Düppel, wo in der Reichsreiterschule ihre Schwester wohnte – ihr Mann war
dort als Pferdepfleger angestellt. In der Nacht schliefen sie in einer Laube in
Zehlendorf, die der ältere Bruder seit einiger Zeit als Unterschlupf nutzte. Er
war von der Wehrmacht desertiert, wurde in Kleinmachnow festgenommen, nach Spandau
abgeurteilt, wo ihm erneut die Flucht gelang. Am Morgen des 24. April wurden
sie auf ihrem Weg von russischen Kampfbombern begleitet. Sie kauerten sich
hinter Betonpfeiler, liefen weiter, versteckten sich wieder. Vor ihnen breitete
sich ein Feld aus Bombentrichtern und Granateinschlägen aus. Auf der Potsdamer
Chaussee stoppte ein Laster, der mit einer Granatladung zur Pfaueninsel
unterwegs war. Eduards Bruder, der noch immer seine Uniform trug, wurde vom
Fahrer aufgefordert mitzufahren. Er weigerte sich. Sie gingen weiter, den Honig
noch im Koffer. Am Straßenrand standen verlassene Flakgeschütze. „Die Kanoniere
hatten sich davongemacht.“
In den Königsweg, etwa 70 Meter vor der Reitschule, hatte sich ein riesiger
Bombentrichter gefressen. Bruder Hans schickte Eduard Wilhelm allein weiter. Er
lief los, im Kugelhagel russischer Jagdbomber. „Links und rechts spritzte der
Sand auf.“ Eine Volkssturmgruppe mit Maschinenpistolen, angeführt von einem
langen SA-Mann, kam ihm entgegen gerannt. „Sie griffen meinen Bruder auf. Ich
hab mich noch mal umgedreht. Ein paar Schüsse fielen. Es war das letzte Mal,
dass ich ihn sah.“ Tage später fand die Schwester nur noch die schwarze
Panzer-Schirmmütze des Bruders. Er war 19.
„Ich bin zu meiner Schwester rein und habe den Honig abgegeben. Dann wollte ich
zurück, aber sie hat mich nicht mehr rausgelassen. In der Nacht kamen die
Russen. Die kämpfende Truppe hat nichts angerührt. Sie waren selbst ausgezehrt
und müde.“
Im Keller der Reitschule verbrachte Eduard Wilhelm zusammen mit drei Familien
und deren Kindern die Nacht. „Am nächsten Morgen wollten wir etwas essen. Eine
Frau stellte eine Schüssel Suppe auf den Tisch, als ein betrunkener russischer
Unteroffizier hereinkam und die Schlüssel vom Tisch schlug. Dann mussten wir
uns an die Kellerwand stellen, er zog einen Revolver und wollte uns erschießen.
Ein russischer Offizier machte dem Treiben ein Ende.“
Eduard Wilhelm sah, wie sich die Soldaten der nachrückenden Truppe an den
Frauen vergingen. „Weil ich lange Haare hatten, hielten sie mich für ein
Mädchen und wollten mich vergewaltigen.“ Dann fiel den Soldaten der schwarze
Winteranzug des Jungvolks auf, den Eduard Wilhelm trug. „Sie betrachteten mich
argwöhnisch. Später sollte ich ihnen zeigen, wie man mit einer Panzerfaust und
einem Panzerschreck schießt. Das habe ich nicht gemacht.“
Wahrscheinlich wäre es sein Todesurteil gewesen, hätte Eduard Wilhelm gezeigt,
dass er sich im Umgang mit den Waffen auskennt. An der Teltow-Werft hatte er
beim Jungvolk gelernt, wie man mit einem Maschinengewehr umgeht und wie man
Handgranaten wirft.
Am Morgen des 26. April machte sich der 13-Jährige allein auf den Weg zurück
nach Kleinmachnow. In der Feldherrnhalle schnappten ihn russische Soldaten und
hefteten ihn an seine Jungvolk-Jacke allerlei Nazi-Abzeichen, worüber „sie sich
mächtig gefreut haben“. Nachschubkolonnen der Roten Armee kamen ihm entgegen.
Er traf Menschen, die aus Berlin flohen, vereinzelt waren Gefangene unterwegs,
die in den Arbeitslagern arbeiteten, wie es sie auch in Kleinmachnow gab. Am
Sachtlebenweg pumpte er für Rotarmisten Wasser in einen Stahlhelm. Er lief über
die Machnower Straße und den Schwarzen Weg. Aus einem Haus am Erlenweg wurde
geschossen, russische Soldaten wurden getroffen. Die Russen reagierten sofort
mit einem Gegenangriff. Alle Deutschen, die in der Gegend aufzufinden waren,
wurden auf den Müllplatz an der Teltow-Werft getrieben. Vier Männer und Eduard
Wilhelm wurden an die Wand eines Wärterhäuschen gestellt. „Es war mir egal, ob
ich erschossen werde.“ Doch bevor die Schüsse fielen, erkannte ein russischer
Offizier den Jungen unter den Männern und ließ ihn frei.
„Ich bin weitergelaufen bis zu unserer Siedlung.“ Aus den Fliederbüschen am
Rand des Viertels lugten Rohre russischer Panzer hervor. Einige Plünderer kamen
Wilhelm entgegen. Am Gartenzaun blieb der Junge stehen: die schmerzlichsten
Erinnerungen werden gegenwärtig: „Unser Haus ist weg. Alles ist weg.
Abgebrannt. Ich sehe zwischen den Grundmauern etwas Verkohltes liegen, ein
Stahlhelm, den wir Kinder uns immer aufgesetzt haben. Dazwischen klemmten
Knochensplitter …“ Mit einem Kopfschütteln beendet Eduard Wilhelm seine
Odyssee: „Das war das Schlimmste!“
Notdürftig begrub er seinen achtjährigen Bruder im Garten. Die Fliegerangriffe,
die Bomben und Schüsse hatten in abgestumpft. „Für Trauer war ich nicht mehr
empfänglich. Ich hatte keine Tränen.“ Später erfuhr er, dass der jüngere Bruder
zusammen mit den anderen Bewohnern der Siedlung im Splittergraben saß, der
nazitreue Bürgermeister Erich Engelbrecht kam und meinte, es bestünde keine
Gefahr, weil die Russen hier nicht herkämen.
Eduards Großvater, der an paar Häuser weiter im Ringweg wohnte, wurde durch
eine Granate schwer verletzt und starb Tage später an den Verbrennungen. Zwei
Häuser wurden in der Siedlung zerstört – eins im Ringweg und das der Wilhelms.
Es war eine deutsche Bombe, die auf das Haus fiel.