Neues Deutschland 16.12.06

 

Kommen und Gehen
Kleinmachnow – eine Weltanschauung 
 
Von Harald Kretzschmar 
 
Alls ich 1956 hierher kam, waren die Ortsgründer und Häuslebauer des Jahrhundertanfangs bereits verblichen, verschwunden, ja vergessen. Als Berliner hatten sie in Klein-Machnow immer ein Anhängsel der Hauptstadt gesehen. 1956 war Stadtgrenze Staatsgrenze, ob es den Bewohnern gefiel oder nicht.

 

Tja, früher: 1909 hatte Lilly Braun, streitlustige Top-Sozialdemokratin aus uraltem Adel und schriftstellernde Frauenrechtlerin, mit ihrem Mann Heinrich als eine der ersten eine Villa bauen lassen. Über ihren Zaun hatte der junge Arnold Schönberg geguckt, Gast im Bildhauerhaus des Ferdinand Lepcke. Als Kabarettmusikus träumte er noch vom Zwölfton-System, das er dann Jahre später im selben Haus zur Vollendung brachte. Kammervirtuosen aller Instrumente sowie des edlen Gesanges waren in die weitere Nachbarschaft gezogen. Außerdem war neben dem die grünen Hügel Afrikas wie Hiddensees gleichermaßen anbetenden Malerradierer Felix Krause der deutsche Meister im Pastell Otto Herbig sesshaft geworden. Originale wie der Tierbildhauer Harry Christlieb und der Filmszenenbildner Hermann Warm waren hinzugekommen sowie eine Menge Zierden der schönen Literatur wie die Menschenkennerin Ilse Molzahn oder der Tierfreund Paul Eipper.
Verrückte Außenseiter wie der Papyrusforscher Hugo Ibscher oder der dichtende Physiker Hugh Gramatzki und der König aller Heraldiker, Ottfried Neubecker, sorgten für ortsübergreifende Publizität. Wie die kunstfreundlichen und dabei politischen Publizisten Georg Gradnauer und Adolf Grimme, Georg Dertinger und Ernst Lemmer, allesamt gewesene oder kommende Minister verschiedener Couleur. Waren sie Kurt Weill und Lotte Lenya vielleicht auf der Post oder zum Frühschoppen im Waldcafe begegnet? Der Sensationserfolg der »Dreigroschenoper« hatte hier den beiden die Backsteinvilla beschert. Die Euphorie war kurz. Kurt Weill musste vor den Nazibanden fliehen. Lotte Lenya blieb noch ein Jahr, bis die Villa wieder verkauft war.
Ging es anderen besser? Das kuriose Multitalent William Wauer, im alternativen Design wie in der konstruktivistischen Skulptur zuhause, hatte hier ein Atelier mit einer kleinen Tierfarm daneben. Nach dem politischen Boykott seiner Kunst musste er nach Berlin zurück. Von dort waren gerade Paul Henckels und Friedrich Kayssler eingetroffen, um sich auf Künstlerlorbeer auszuruhen. Doch der gefeierte Komödiant gab die vom Architekten Eiermann prachtvoll erbaute Behausung wegen der Anfeindungen gegen seine jüdische Frau schnell wieder auf. Und der große Tragöde wurde am Kriegsende Opfer eines der letzten Schüsse. Alle waren gern gekommen...

 

Kommen und Gehen. Ausstrahlung und Gegenlicht. Steigen und Fallen. Balance finden in Augenhöhe. Abgehoben von zu fester Bodenhaftung. Leben in Schwingungen. Leben ohne Spuren zu hinterlassen. Leider ... Ab 1933 wird jede »falsche« Bewegung beargwöhnt, »Standpunkt« eingefordert. Die Arisierung marschiert. Oben auf dem Seeberg realisiert Hitler-Intimus und Reichspostminister Ohnesorge dubiose Kriegsrüstungspläne. Unterirdisch im Waldesdickicht neben der Reihenhausbebauung surren Boschs Aggregate, Teile für Sturzkampfbomber herzustellen. Bedient von eigens täglich herangekarrten KZ-Häftlingen. 1945 hetzt der »Volkssturm« fanatisierte Pimpfe in einen sinnlosen Opfertod. Der Ort, gebeutelt von Hunger, Flucht und Tod, gewinnt erst danach wieder eine geistige Dimension.

 

Ein Jahrzehnt danach betrete ich erstmals diesen Boden. Und sofort erhebt mich jener Geist. Wie das? Zunächst verwirrt das Unvollendete des Ortsbildes. Eine genial hingeworfene Skizze zu etwas. Weder zum Nobelvillen-Vorort ist es geworden, noch Laubenkolonie geblieben. Das Unvollkommene als Wert. Allein schon zum Atemholen, diese Freiräume. Ich wohne zunächst am Fuß des Seebergs, den 1952 jene Parteihochschule geräumt hat, die mit der einseitigen Stalinisierung hoffnungsvolle, aber widerspenstige junge Kader wie Wolfgang Leonhard und Hermann Weber vertrieben hatte. Welche am Ende ihre einzig wirklich wahrgenommenen Chronisten bleiben werden.
Meine Wirtin, Witwe des gewesenen Wirtschaftsdirektors dieser PH, trällert unbekümmert ein Liedchen. Sie ist mit ihrer Freundin Elga Abramowitz verabredet, welche Texte des »australischen« Autors Walter Kaufmann ins Deutsche überträgt, ehe der Remigrant selbst zu seiner Muttersprache zurückkehrt. Er lebt schrägrüber mit der jungen drallen Aktrice Angela Brunner. Zwischen den Zweigen raunen die Musen. Dass es eine ganz neue Weise sei, hoffen wir alle. Koryphäen der Wissenschaft, die einen mehr Marx, die anderen mehr Einstein verpflichtet, diskutieren ebendies sozusagen übern Gartenzaun mit den Leuten von Bühne und Film.
Geschonneck ist leider gerade ausgezogen. Aber haben Sie schon gehört, schwatzt Frau Wirtin, die Gisela Uhlen wohnt jetzt hier, sie hat gerade von der kleinen Susanne entbunden, die ihr der Kieling gemacht hat. Aber die Karla Runkehl, die hat immer noch ihren doofen Zahnarzt, der ihr das Engagement am DT vermasselt. Ein recht munteres Völkchen lerne ich kennen. Heinz Florian Oertel und andere gerade erst bekannt werdende Leute vom gerade entstehenden Fernsehfunk sind dabei. In seltener Freimütigkeit werden lose Reden geschwungen.

 

Denn: Kleinmachnow ist kein Ort. Kleinmachnow ist eine Weltanschauung. Genüsslich zitiert das Herbert Köfer, wenn eine kunterbunte Schar Künstlerkollegen bei ihm zum Fasching klönt. Ein geflügelter Satz im Fernsehfunk: Gemeint waren die, welche dem Sender neben dem Glanz hoher Lobpreisung öfter das Elend mieser Maßregelung einbrachten. Ist Gerhard Bengschs neuer Mehrteiler politisch nicht etwas grell auf proletarisch geschminkt? Naja, Hansjoachim Kaszprik riskiert mit der Fallada-Adaption da nicht so viel. Aber künstlerische Qualität pur ist eben nur bei historischen Stoffen zu haben – das hat doch schon Helmut Schiemann beim Arnold-Zweig-Zyklus bewiesen. Nachbarn wie du und ich. Übrigens, neulich soll doch sogar der olle Walter E. Fuß, der »Professor Flimmrich« des Kinderfernsehens, Zoff mit der Sendeleitung gehabt haben ...

 

Die verrückten 60er Jahre waren das. Der Ort ist eine Insel geworden. Im Westen, Norden, Osten Mauer und im Süden der Teltowkanal – da soll man sich nicht als Insulaner fühlen? Der verliert die Ruhe nicht, singt zum Trost (nicht für uns) Frau Sais im Rias. Die Politik ist eiskalt. Der heiße Atem der Kunst wärmt. Wir seien nach 61 im Suff verkommen vor lauter Frust, triumphierte die »Stuttgarter Zeitung« neulich. Na aber. Joliot-Curie-Club, Barockmusikkreis, Zimmertheater – alkoholische Hirngespinste? Wo der Clubrat auf der Hakeburg als Clubstandort Gäste aus nah und fern zum Feiern und Fachsimpeln begrüßt und bei Parteistrafe nicht ruht, ehe nicht der illegal preiswert singende Wolf Biermann gastiert.
Und die seriösen Musiker, seit 1945 schon Rückgrat eines vitalen örtlichen Kulturlebens, dehnen nun ihren Aktionsradius aus. Das Theaterchen der Irene Korb nennt sich nicht zufällig »Kleinmachnower Kreis«. Allein schon diese drei zunächst ganz privaten, erst später vom Kulturbund okkupierten Initiativen beweisen eine unvergleichliche Aufbruchstimmung. Bedingungen: hart. Denn wieder geht es um Kommen und Gehen. Wer den Umweg um Westberlin herum zum Theater, Rundfunk oder zum Synchronstudio im Osten nicht verkraftet, wie Helga Göring und Agnes Kraus, zieht um. Dafür kommen Juwelen für die Krone, die sich der Geist des Ortes leistet: Christa und Gerhard Wolf. Fred und Maxie Wander. Offene Bücher, offene Häuser. Guten Morgen, du Schöne. Frank Beyer startet eine beispiellose Serie von Spitzenfilmen. Von »Fünf Patronenhülsen« bis »Karbid und Sauerampfer« geht es steil aufwärts. Mit »Spur der Steine« kommt der Absturz in die Abgründe der Zensur. Neuer Aufschwung kommt auf anderer Ebene. DEFA-Gruppenchef Hans Mahlich bringt den ortsansässigen Regisseuren Groschopp, Kolditz und Petzold für ein Jahrzehnt Indianerfilmdreh Gojko Mitic als Idealbesetzung aus Jugoslawien mit. Karl Gass, Pionier des neuen Dokfilms, geht Sonderwege neben der offiziellen DEFA mit seiner mitten im Ort produzierenden eigenen Gruppe »Effekt«. Unter seiner Leitung stabilisiert sich der Curie-Club neben dem Becher-Club in Berlin und dem Ardenne-Club in Dresden als erstklassige intellektuelle Adresse. Wer nur immer Zeit und Lust hat, trifft sich da. Wer nicht, tut es privat.

 

Privat – das darf heute gnädig als »Alltag in der Nische unter der Diktatur« durchgehen. Was bitte heißt »Alltag«? Alltag in Kleinmachnow ist Misere: Kein Gemüse auf dem Teller, Jauche im Keller. Aber im Kopf sauber. Kleinmachnow – eine Weltanschauung. Dieser Ort spiegelt wie in einem Brennspiegel die Problematik des ganzen Landes. Die Grenzen sind seit 1961 dicht. Im Innern aber blüht Fantasie. Und recht privater Ehrgeiz. Man kann auch Zivilcourage dazu sagen. Kleinmachnow hat schließlich Tradition für Querdenker.

 

Adolf Grimme. Walter Janka. Robert Havemann. Drei Exponenten. Hitlersystemgegner Grimme: Gastgeber für die illegalen Treffs der »Roten Kapelle« in Kleinmachnow, Zuchthaus, nach der Befreiung Gründerfigur eines progressiven Mediums, genannt Norddeutscher Rundfunk. Janka: 1952 nach Spanienkrieg und Mexikoexil hergekommen, DEFA-Mitgründer und Aufbau-Verleger, 1957 als Ulbricht-Widersacher enttarnt, Zuchthaus, nach 1962 DEFA-Dramaturg und Initiator des genialen Goyafilms von Konrad Wolf. Havemann, gewiss, wird erst später in Grünheide zum Dissidenten. Aber: Robert Havemann und Herbert Sandberg, gerade den Kerkern der Nazis entkommen, gehen erst der US-Besatzungsmacht auf die Nerven, dann (seit 1948 Bürger Kleinmachnows) den eigenen Genossen. Sandbergs »Ulenspiegel« stellt bis zum Lizenzentzug 1950 das intellektuelle Rückgrat eines noch gesamtdeutschen Antifaschismus dar. Eine illustre Runde trifft sich bei Havemann zum Disput. Die neue Top-Karikaturistin und spätere Kinderbuchautorin Elizabeth Shaw, ihr Bildhauermann Rene Graetz und Komponist Ernst Hermann Meyer vermitteln Erfahrungen des britischen Exils. Zum Beispiel.
Eben dasselbe Haus wird seit 1952 das weiterhin weltoffene Domizil von Karl Heinz und Sibylle Gerstner. Sachlich, kritisch und optimistisch. Trotz beispielloser Konflikte. Ihre dort aufgewachsene Tochter Daniela Dahn erkennt 1990 (in ihrem Text »Tiefer Grund«) als Hinterlassenschaft Havemanns »... eine Art parapsychologische Wirkung seines humorvollen, kritischen Geistes, der ich mich nicht entziehen wollte«. Gesagt, getan. Wir lesen sie, und verstehen. Wie wir 1968 Christa Wolf mit ihrem hier geschriebenen Buch »Nachdenken über Christa T.« lesen. Und verstehen. Mit dem Paukenschlag des »Geteilten Himmels« 1962 hier ansässig geworden, verlässt sie uns mit dem wieder heiß diskutierten Roman »Kindheitsmuster« 1976 Richtung Berlin. Wo sie einen »Literarischen Salon« begründen will, der an der Biermann-Affäre scheitern muss.

 

Die einen gehen. Andere kommen. Es kommt Horst Seemann. Der bisher Erfolglose dreht nun Topfilme. 1980 »Levins Mühle«. Ein gereifter Lothar Warneke siedelt sich hier an. Ein Reihe widerborstiger Spielfilme beschließt er 1988 mit »Einer trage des anderen Last«. Die Last des mit der Abwicklung der DEFA erzwungenen Endes ihrer beider Erfolgskarrieren ertrugen weder der eine noch der andere. Krankheit Siechtum Tod.
Ihrem Schriftstellerkollegen Herbert Otto lacht das Glück ein letztes Mal 1983. »Der Traum vom Elch« als Bestseller-Roman ist zehn Jahre später ausgeträumt, als ein Siemens-Manager ihn aus dem Haus wirft, der bald selbst der Korruption überführt wird. Glücksfälle und Schicksale. Tja, all das müsste man mal aufschreiben ...