MAZ 05.10.09

 

MENSCHEN: Geboren in der UdSSR

Wolfgang Blasig über den Wendeherbst und seine Großväter, die als Raketenexperten nach Russland mussten

Wolfgang Blasig hat eine besondere Vita. Er saß am Runden Tisch und gründete die Ortsgruppe des Neuen Forums in Kleinmachnow. Geboren wurde er in Moskau. Mit Wolfgang Blasig sprach Jens Steglich.

MAZ: Sie sind 1954 in einem Moskauer Hospital zur Welt gekommen. Wie sind Ihre Eltern dorthin geraten?

Wolfgang Blasig: Meine Großväter waren in Deutschland aus normalen Berufen in die Rüstungsindustrie geraten. Einer war in einer Berliner Firma, die Höhenmesser baute, die auch in die V1- und V2-Raketen eingesetzt wurden. Der andere Großvater stellte Steuer- und Regelungstechnik her, die für diese Raketen verwendet werden konnte. Nach Kriegsende waren die Strategien der Siegermächte unterschiedlich. Die Amerikaner haben die Raketenforschung Deutschlands aufgenommen, indem sie die führenden Köpfe in ihr Land holten. Die Russen haben gesagt: Uns interessiert alles. Sie nahmen die halbfertigen Produkte mit und alle Leute, die damit zu tun hatten.

Widerspruch war zwecklos?

Blasig: Man klopfte an die Tür und teilte mit, dass man sich freut, „dass sie bereit sind, den Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion zu unterstützen“. Man hatte zwei Stunden Zeit zu packen und dann war man fort. Das passierte 1946/47, so kamen meine Eltern als Kinder so genannter deutscher Spezialisten in die Sowjetunion. Ziel war es, die Trägerrakete für Sputnik 1 zu entwickeln. Als die fertig war, durften die Deutschen wieder nach Hause. Doch was wussten Leute, die zehn Jahre in Russland hinterm Zaun gelebt haben, was Ost und was West ist. So entschieden sich die meisten, in ihren Wohnort zurückzugehen – für meine Großeltern väterlicherseits war das Kleinmachnow. Vorher, 1954, hatten sich meine Eltern in Russland kennen gelernt und das Resultat war ich. Meine Eltern erzählten, als die Rakete flugfähig war, folgte etwas, was die Russen oft tun: Sie schickten die Leute zum Vergessen ans Schwarze Meer. Von dort ging es 1957 zurück nach Deutschland, nach Leipzig, wo ich mit zweieinhalb Jahren das erste Mal deutschen Boden betrat.

Was war das für ein Leben hinterm Zaun?

Blasig: Die Erzählungen meiner Eltern sind mittlerweile etwas geschönt. Es war für viele dort die beste Zeit ihres Lebens – die Jugend. Es war auch Gefangenschaft, aber die Leute wurden gut behandelt. Sie hatten mehr zu essen als die Russen. Das Absurde war, dass mein Vater, bevor er meine Mutter kennen lernte, seine Freundin in Westberlin in der Zeit der Blockade mit Paketen unterstützte. Es gab Post aus Russland für eine eingekesselte Westberlinerin. Die Pakete aus dieser Richtung kamen ja an.

Ist man nach so einer Erfahrung emotional besonders verbunden mit diesem Land oder hasst man es?

Blasig: Mein Großvater sprach exzellent russisch und hatte sich an Übersetzungen der russischen Klassiker gemacht. Auch mein Onkel war später Übersetzer. Das, was wir heute von Puschkin oder Gogol in deutsch lesen, hat er übersetzt. Für meinen Vater und meine Mutter war es die Jugendzeit. Was geblieben ist, ist kein Hass. Es ist tiefe Verbundenheit. Wenn ich als junger Kerl Sportveranstaltungen anschaute, hielt ich für die Russen die Daumen. Ob beim Fußball oder Eishockey – das waren meine Leute.

Lag es an der russischen Wirklichkeit, an der fehlenden Demokratieerfahrung dieses Landes, dass der Sozialismus-Versuch im Gulag und in gleichgeschalteten Gesellschaften verkommen ist?

Blasig: Ich habe mit meiner Familie kennen gelernt, was für außergewöhnliche Menschen mit einer Gutmütigkeit und einem fast nicht nachvollziehbaren Langmut dort leben. Andererseits durften wir am eigenen Leibe feststellen, wozu dieses pervertierte System fähig ist. Der Traum von einer demokratischen und sozialistischen Gesellschaft wurde durch diese Erfahrungen aber eher verstärkt als vernichtet. Denn man merkte, dass das System ein diktatorisch-feudalistisches ist. Es stellt sich natürlich die Frage: Warum kann man mit einem Volk so etwas machen? Diese Gedanken hatten auch in der Wendezeit ihre Berechtigung. Mit dem System in der DDR war ich alles andere als einverstanden. Es gab bei mir wie bei anderen den Wunsch nach einem dritten Weg: Ein deutscher Staat – demokratisch und frei von den Zwängen des einen wie des anderen Systems. Eine romantische Vorstellung, wie sich zeigte.

Für Romantiker war der 4. November 1989, die Demonstration auf dem Berliner Alex, der schönste Moment der Revolution, nicht der Mauerfall.

Blasig: Ab Mitte der 80er-Jahre kam aus der Nischensituation heraus das Gefühl auf, das kann man nicht mehr so laufen lassen. Es entstanden Umweltgruppen und andere Initiativen. Wir wollten das Land verändern, der Mauerfall kam für uns überraschend. Er hat mich emotional nicht so berührt wie der 4. November 1989. Da hatte man das Gefühl, hier ist etwas in der Luft, was Millionen auf ein Ziel einschwört. Später wurde klar, wie das Ziel formuliert wird: „Wir sind ein Volk.“ Gemeint war: „Wir wollen eine Währung, wir wollen teilhaben am guten Leben.“ Das war ein Ziel, das die Massen vereinte. Es war wohl intellektuelle Überheblichkeit von manchem von uns zu glauben, dass man ökonomische Zwänge ausschalten, von einer Idee beseelt satt werden könnte.

Warum sind Sie damals in die SPD eingetreten?

Blasig: Man könnte mir vorwerfen, dass ich schlau war. Schließlich ist man als politisch Verantwortlicher ohne politische Heimat eine arme Sau. Aber das war nicht vordergründig. Vordergründig war: Es gab in der SPD in der Historie, aber auch Anfang der 90er-Jahre Menschen, wo ich gesagt habe: Da finde ich mich wieder. Es war eine emotionale Entscheidung, die sich später auch intellektuell als richtig erwies.

SPD und Linke haben gleiche ideelle Wurzeln. Sozialdemokraten wussten aber sehr viel früher, dass Sozialismus ohne Demokratie die Gestalt eines Monsters annimmt. Warum ging die SPD nach dem Ende des Realsozialismus selbst in Sack und Asche und ließ ihren Kampfbegriff gegen den Stalinismus – den demokratischen Sozialismus – in der Schublade verschwinden?

Blasig: Deshalb tut sich die SPD bis heute so schwer in der Abgrenzung zur Linken. Damals haben wir einen Fehler gemacht. Es war ja in der DDR kein Sozialismus, das war die Erfindung eines Regimes, eine Karikatur von Sozialismus. Es gab keinen Grund für die SPD, ihre Vision vom demokratischen Sozialismus gleich mit in der Versenkung verschwinden zu lassen. Bei einem Umbruch wie diesem gibt es auch Verlierer, gibt es Menschen, die sich als solche fühlen. Dieses Feld zu besetzen und es mit einem Sozialismusbegriff zu kombinieren, war ein Schachzug der damaligen PDS, der es der SPD jetzt schwer macht, Grenzen zur Linken zu ziehen.

Ihr SPD-Weggefährte aus den 90er-Jahren, Klaus Nitzsche, wird gerade von seiner Stasi-Vergangenheit eingeholt.

Blasig: Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder, man sagt die Wahrheit oder man sagt immer das Gleiche. Dann muss man sich aber darauf einstellen, dass das eine oder andere ans Licht kommt. Ich kann Menschen in der Politik nur empfehlen: Wenn euch nichts einfällt, versucht es mit der Wahrheit.

Bürgerrechtler konnten sehr genau formulieren, was sie an der DDR übel fanden. Was stört Sie heute?

Blasig: Ein allumfassendes Diktat des Geldes und der ökonomischen Prozesse über moralische Werte. Ich habe das Gefühl, wir sitzen alle in einer Tretmühle und vergessen dabei das Miteinander. Insofern wünsche ich mir nach wie vor eine solidarische, auch moralischen Werten verpflichtete Gesellschaft.

Sind Sie zufrieden mit Ihrem Leben?

Blasig: Ich neige nicht dazu, unglücklich zu sein. Mein Wunsch ist es, eine Spur zu hinterlassen, die die Welt ein klein wenig besser macht. Ich lebe nicht, um zu überleben, sondern tatsächlich, um zu gestalten. Und diese Möglichkeit ist mir nach 1989 in stärkerem Maße gegeben. Das ist auch der Grund, warum ich mich ohne Wenn und Aber in der Bundesrepublik zu Hause fühle. Ich fühle mich nicht als Beigetretener.