Märkische Allgemeine Zeitung 12.04.06
PETER HAHN
Der siebzigjährige britische Premierminister Winston S.
Churchill war am 15. Juli auf dem Flughafen Gatow eingetroffen. Er kam aus
Bordeaux, wo er sich in der Nähe von den Strapazen des Krieges und des
Wahlkampfes zum britischen Unterhaus erholt hatte. Begleitet wurde er von
Außenminister Anthony Eden und Oppositionsführer Clement Richard Attlee.
Vom Flugplatz begab sich Churchill mit seiner Delegation
nach Babelsberg, wo er dann gegen 17 Uhr in der Ringstraße 23 Quartier bezog.
"Wir fuhren zu einem geräumigen Haus, von dem es hieß, es hätte dem
Bankier Schacht gehört", schrieb sein Leibarzt Lord Charles W. Moran.
"Ich folgte ihm durch zwei kahle Räume mit großen Kronleuchtern auf die
andere Seite des leeren Hauses, wo sich französische Fenster, die lange nicht
geputzt worden waren, auf einen Balkon öffneten. Dort warf sich Churchill, ohne
den Hut abzunehmen, in einen Gartenstuhl. Er schien zu müde, um sich zu
bewegen. Er verlangte einen Whisky und schaute wortlos über die Wiese zum Griebnitzsee
hinunter." Am Nachmittag des 16. Juli, nach einem Besuch beim
amerikanischen Präsidenten in dessen Residenz Kaiserstraße 2, ließ sich
Churchill die Ruinenstadt Berlin zeigen. Einen Tag später begann die Potsdamer
Konferenz. Nachdem die britische Delegation am 25. Juli um eine Auszeit gebeten
hatte, fuhr der unruhige Churchill in die Villa am Griebnitzsee.
Wenig später flog er nach London, wo er am nächsten Tag
erfahren musste, dass seine Konservative Partei die Unterhauswahlen verloren
hatte. Am Abend des 28. Juli kam der neue Premier Clement Richard Attlee von
der Labour Party in der Babelsberger Ringstraße 23 an.
Das Haus in der heutigen Virchowstraße 23 wurde nach
Plänen von Ludwig Mies van der Rohe in den Jahren 1915/17 für den Berliner
Bankier Franz Urbig erbaut. Es war sein zweites Bauwerk in Neubabelsberg.
Bereits 1907 hatte er in der Spitzweggasse 3 das Wohnhaus für die Familie des
Philosophieprofessors Alois Riehl geschaffen.
Mies van der Rohe hat sich für ein zweigeschossiges
Gebäude mit Walmdach entschieden. Längs der Straße steht nun ein Haus, das
mit seiner klaren Linie die neoklassizistischen Tendenzen am Beginn des 20.
Jahrhunderts verdeutlicht. Die Blockhaftigkeit, vor allem aber die nur
wenig aus der Wand heraustretende Pilastergliederung an Straßen- und
Seeseite sind wohl auch Tribut an das Repräsentationsbedürfnis des
Bauherren. Die Fassadengestaltung mit diesen Elementen verleiht dem Bau ein
klassisches Aussehen, bei dem dennoch der Einfluss der Moderne nicht zu
übersehen ist. Nachzutragen ist, dass sowohl zum Garten hin als auch an der
schmaleren Ostseite eingeschossige Anbauten mit begehbaren Terrassen
entstanden sind.
Das alles war zusammen mit 1414 Quadratmeter Nutzfläche standesgemäß.
Schließlich war der gebürtige Luckenwalder Franz Urbig von 1884 an sechzig
Jahre mit der Disconto-Gesellschaft und der Deutschen Bank verbunden. Der
frühere Schreiber am Amtsgericht Luckenwalde mit guten Sprachkenntnissen
bekam seine Chance, als die Disconto-Gesellschaft die Deutsch-Asiatische
Bank eröffnete. Urbig reiste Ende 1894 nach Ostasien und übernahm dort die
Leitung der Filiale Tientsin. Drei Jahre später verhandelte er über die
Gründung der Deutsch-Chinesischen Eisenbahngesellschaft. Nach dem Ersten
Weltkrieg wurde der Finanzsachverständige bei den Vorbereitungen des
Versailler Vertrags eingeschaltet. Immer wieder versuchte er, die
Siegermächte von den fatalen wirtschaftlichen Folgen der
Reparationsforderungen zu überzeugen. Wesentlichen Anteil hatte Franz Urbig
an der Einführung der Reichsmark und damit dem Ende der Inflation. Er starb
am 28. September 1944 in Babelsberg.
Nach dem Kurzaufenthalt von Churchill und Attlee im Sommer 1945 hat die
Villa in den folgenden Jahrzehnten recht unterschiedliche Nutzer und
Nutzungen überstehen müssen. Erstaunlich ist, dass der Bau das alles nahezu
unversehrt und unangetastet überstanden hat. Nach der Wende hat die
Bauherrin Elisabeth Urbig das Architekturbüro Brenne mit der bauhistorischen
Bestandsaufnahme beauftragt. In den Jahren 1993/94 erfolgten die
Baumaßnahmen. Mit der nachfolgenden Restaurierung und Instandsetzung wurde
zweifellos ein außergewöhnliches Frühwerk des Architekten Mies van der Rohe
gerettet. Das ist die eine Seite der Medaille, die andere ist, dass in das
Haus nun endlich wieder Leben einziehen muss.
Die MAZ-Serie "100 Jahre Teltowkanal" steht im Internet unter
www.MaerkischeAllgemeine.de/teltowkanal
(Potsdam-Mittelmark)